Geschichte
Bei der Tradition der Lieder- und Tanzfeste in Lettland handelt es sich um einen beständiger kreativer Prozess, bei dem Folkloregruppen, professionelle Künstler mit Kennern der traditionellen Kultur zusammenarbeiten. Im Laufe der Jahre ist das Allgemeine Lettische Lieder- und Tanzfest zu einem Fest der nationalen Kultur und Identität geworden. Im Rahmen der Feiern zeigen jede Region Lettlands und jedes Kunstgenre ihre besonderen Errungenschaften und geben den Einwohnern Lettlands und Gästen aus aller Welt die Möglichkeit, die vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten der lettischen Kultur zu erleben. Das Lieder- und Tanzfest ist in seinem Kern zu einer Pilgerfahrt der lettischen Nation geworden, an der Groß und Klein aus allen Regionen des Landes sowie dem Ausland teilnehmen. Das Fest hat sich zu einem kraftvollen Zeichen und einem Ausdruck der Geschlossenheit des lettischen Volkes entwickelt.
Der große Gesamtchor, dessen künstlerische Qualität in der A capella-Gesangstradition begründet ist, steht im Zentrum der Feiern. Zugleich ist das Fest zu einem beeindruckend vielseitigen Ereignis angewachsen, das verschiedenartige Genres und Ausdrucksformen der Volkskunst umfasst: die Chorbewegung und das gemeinsame Singen, Volkstänze und Großkonzerte der Tanzgruppen, Instrumentalkonzerte von Blasorchestern und Kokleensembles, Chorwettbewerbe, Wettbewerbe von Tanzgruppen und Blasorchestern, Auftritte von Folkloregruppen, Ausstellungen der angewandten Kunst und des Kunsthandwerks. Die Tradition der Liederfeste hat in ihrer 150-jährigen Geschichte neue Formen des gemeinsamen Tanzens und Singens hervorgebracht: Zusammenkünfte von Männer-, Frauen- und Knabenchören, das Lieder- und Tanzfest für Schüler und gemeinsame Konzerte von Blasorchestern. Inspiriert von der Tradition der Liederfeste in den Baltischen Staaten entstanden neue regionale Festformate wie das Lieder- und Tanzfest der Studierenden im Baltikum Gaudeamus, das seit 1956 im 5-Jahres-Rhythmus in einem der Baltischen Länder stattfindet. Aber auch das Skandinavische und Baltische Liederfest, das seit 1995 alle zwei Jahre stattfindet, bereichert den interkulturellen Dialog und stärkt die Zusammenarbeit der Ostseeanrainer.
Die traditionellen Lieder- und Tanzfeste in Lettland, Litauen und Estland haben im Jahr 2003 große internationale Anerkennung erfahren, als sie in die UNESCO-Liste der Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Kulturerbes aufgenommen wurden.
Vorgeschichte
Die Ursprünge des Liederfests finden sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland, der Schweiz und Österreich. Eine der beachtenswertesten Veranstaltungen dieser Art fand 1848 in Leipzig statt, wo sich etwa 5000 Sänger verschiedener Männerchöre im Gesang vereinten.
In den 30er und 50er Jahren des 19. Jahrhunderts gründeten Baltendeutsche in den Städten des Baltikums Sängergruppen und organisierten Gesangsveranstaltungen. Eine der bedeutendsten Veranstaltungen im kulturellen Leben Rigas jener Zeit war das Musikfest Daugava im Jahr 1836. Dieses Fest war das erste seiner Art im Baltikum. In sämtlichen Konzertsälen Rigas und in verschiedenen Parks fanden Chorkonzerte statt. Später wurden ähnliche Feste auch in Reval (heute: Tallinn) und Riga veranstaltet. Der Pastor und Schriftsteller Juris Neikens griff die Idee der von den Deutschbalten veranstalteten Liederfeste auf und organisierte 1864 das erste Gemeinschaftskonzert für lettische Männerchöre im Ort Dikļi bei Valmiera, an dem 120 Sänger aus 6 Chören sowie Schülergruppen teilnahmen. Ähnliche Feste fanden in den darauffolgenden Jahren in wechselnden Kleinstädten Lettlands statt. 1870 organisierte Jānis Bētiņš mit 400 Sängern und einem 40-köpfigen Orchester das Kurländische Gesangsfest in Dobele. Dieses Fest wird auch als „Generalprobe für das Allgemeine Lettische Liederfest“ bezeichnet.